Bericht der Fachtagung „Zusammen:denken – Politische Bildung im Plural“

„Zusammen:denken – Politische Bildung im Plural“ – unter diesem Motto diskutierten am 20. und 21. November 2023 Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen und weitere Multiplikator*innen der politischen Bildung bei der Fachtagung der Fachstelle politische Bildung – Transversalen in Berlin. Die Veranstaltung fand in Zusammenarbeit mit der Berliner Landeszentrale für politische Bildung statt.


„Zusammen:denken – Politische Bildung im Plural“ – unter diesem Motto diskutierten am 20. und 21. November 2023 Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen und weitere Multiplikator*innen der politischen Bildung bei der Fachtagung der Fachstelle politische Bildung – Transversalen in Berlin. Die Veranstaltung fand in Zusammenarbeit mit der Berliner Landeszentrale für politische Bildung statt.

Im Mittelpunkt der Tagung stand die Frage, wie politische Bildung der Vielfalt unterschiedlicher Praxisfelder, institutionalisierter Settings, gesellschaftspolitischer Herausforderungen und Bedarfe von Adressat*innen konzeptionell gerecht werden kann. Die Tagung bot ein vielfältiges Programm aus Vorträgen, Workshops, Podiumsdiskussionen und Austauschrunden zwischen Praktiker*innen, Wissenschaftler*innen und Unterstützer*innen politischer Bildung. Die Teilnehmenden konnten sich über verschiedene wissenschaftliche Modelle und Konzepte informieren, die wissenschaftliche und praktische Schnittstellen politischer Bildung miteinander verbinden wollen. Dabei wurden unter anderem Themen wie Demokratiebildung, Menschenrechtsbildung, Empowerment und Partizipation behandelt.

Besuch des Projekts „Hellersdorf aktiv“

Einige Teilnehmende nutzten die Gelegenheit, die Fachtagung mit einem spannenden Einblick in ein Projekt aufsuchender politischen Bildung von Roter Baum Berlin UG zu starten. Sie wurden von der Verantwortlichen für das Projekt „Hellersdorf aktiv“, Jelena Vukmanović, mit Kaffee, Tee und Kuchen herzlich begrüßt. Sie stellte die Struktur, Ziele und Aktivitäten des Projekts vor, das sich an Menschen im Stadtteil Hellersdorf richtet. Aufsuchende politische Bildung bedeutet für sie, dort präsent zu sein, wo die Menschen sich ohnehin treffen, Vertrauen zu schaffen und die Menschen zu motivieren und zu befähigen, ihre eigenen Bedürfnisse zu formulieren und einzubringen.

Gespräch und Publikumsdiskussion: Menschenrechte als normative Grundlage politischer Bildung

Nach den Eindrücken aus der Praxis kamen alle Teilnehmenden der Fachtagung in der Berliner Landeszentrale für politische Bildung zusammen. Thomas Gill (Leiter der Berliner Landeszentrale für politische Bildung) und Dirk Posenau (Fachstelle politische Bildung – Transversalen) begrüßten die Teilnehmenden und führten in die Fachtagung ein.

Anschließend fand eine Podiumsdiskussion zum Thema „Menschenrechte als normative Grundlage politischer Bildung“ statt. Auf dem Podium diskutierten Prof.in Dr.in María do Mar Castro Varela (Alice Salomon Hochschule Berlin), Dr.in Sandra Reitz (Deutsches Institut für Menschenrechte) und Prof. Dr. Albert Scherr (Pädagogische Hochschule Freiburg) engagiert über die Bedeutung der Menschenrechte für die Gesellschaft und die politische Bildung. Albert Scherr plädierte für eine Verbindung von Menschenrechtsbildung und politischer Bildung. Er begründete dies damit, dass die Trennung beider Bereiche zwar historisch und institutionell nachvollziehbar, aber fachlich unsinnig sei. Demokratische politische Bildung setze eine Orientierung an den Menschenrechten voraus, die zur politischen Grundlage demokratischer Staaten gehörten. Die Menschenrechte seien zudem ein politisches Vorhaben und das Produkt zwischenstaatlicher Verhandlungen. Aus diesem Grund gehörten sie auch zum Gegenstandsbereich politischer Bildung. Sandra Reitz hingegen widersprach dieser Auffassung und argumentierte, dass Menschenrechtsbildung nicht in politischer Bildung aufginge. Sie sei nach wie vor ein Randthema und müsse in ihrer eigenständigen Form gefördert werden. Es kamen des Weiteren unterschiedliche Perspektiven zur Sprache, ob Menschenrechte historisch und lokal variieren oder universell gelten.

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Der zweite Tag bot Einblicke in verschiedene Themenbereiche, die in Workshops vertieft werden konnten.

Ziemlich beste Feinde oder viel Lärm um (fast) nichts? – Überlegungen zum Streit zwischen Demokratiepädagogik und Politikdidaktik

Im ersten Vortrag sprach Prof. Dr. Marc Partetzke (Universität Hildesheim) über den Streit zwischen Demokratiepädagogik und Politikdidaktik und stellte einen Versöhnungsvorschlag zur Diskussion. Zunächst zeichnete er die Grundzüge des oft beschriebenen Konflikts zwischen der Politikdidaktik und der Demokratiepädagogik nach. Partetzke vertrat die These, dass unterhalb der Sichtebene eigentlich gar kein Dissens zwischen diesen beiden Disziplinen ausgemacht werden könne bzw. es keine guten Gründe für den Streit gebe. Es herrsche Einigkeit darüber, dass der Schwerpunkt der politischen Bildung auf demokratischer Politik liege und dass diese auf verschiedenen sozialen Ebenen stattfinde. In der Schule werde demokratisch politische Bildung entsprechend in drei Spielarten realisiert: als Schulprinzip, als Unterrichtsprinzip und als Schulfach. Partetzke plädiert dafür, diese Formen als sich ergänzende, nicht als konkurrierende Aspekte zu verstehen. Er fragt, ob der Streit darüber vielleicht weniger ein fachlicher als ein sozialer Konflikt ist, bei dem es um Anerkennung und Ressourcen geht.

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Vorstellung des Integrationsmodells für politische Bildung in der Jugendbildung/Jugendarbeit

Dr.in Helle Becker (Transfer für Bildung e.V. / Fachstelle politische Bildung – Transversalen) stellte das „Integrationsmodell für politische Bildung in der Jugendbildung/Jugendarbeit“ vor, das Konzepte von politischer Bildung und Demokratiebildung in der Jugendarbeit aufgreift und in einem neuen Modell zusammenführt. Auf der Grundlage gemeinsamer Strukturmerkmale beruht das Modell auf der Unterscheidung verschiedener Handlungs- und Wahrnehmungsmodi, die in allen Settings, mit verschiedenen Bedingungen und Möglichkeiten, vorkommen. Das Modell kombiniert ineinandergreifende Gelegenheiten für politische Selbstbildungsprozesse und kann in der Praxis als handlungsleitendes Konzept von Einrichtungen und Organisationen die Reichwieten politischer Bildung erhöhen. In der Arbeitsgruppe zum Vortrag wurde zusätzlich aus dem Projekt „OPEN – Offene Jugendarbeit und politische Bildung gemeinsam engagiert“ berichtet, welches das Integrationsmodell praktisch erprobt hat.

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Eine Beschreibung des Integrationsmodells finden Sie auch in der Broschüre „Politische Bildung und Jugendarbeit. Handreichung für eine verbindende Perspektive“.

 

Das „Feld der politischen Bildung“: Konturen und exemplarische Einordnungen kontroverser Debatten

Prof. Dr. Helmut Bremer, Songül Cora, Catrin Opheys, Dr. Tim Zosel (alle Universität Duisburg-Essen) sprachen über: Das „Feld der politischen Bildung“: Konturen und exemplarische Einordnungen kontroverser Debatten.

Hierfür stellten sie eine Heuristik des „Feldes der politischen Bildung“ vor, um gegenwärtig kontrovers diskutierte Themen der politischen Bildung und die damit verbundenen Kämpfe und Dynamiken verstehbarer zu machen. In Anknüpfung an das von Pierre Bourdieu entwickelte Konzept des „politischen Feldes“ bestimmten sie das Feld des „Politischen” als einen Ort, an dem um die politische Deutungshoheit und um Machtverhältnisse gekämpft wird. Die politische Bildung habe keinen festen Platz im politischen Feld; ihr würden aber bestimmte Orte und Funktionen zugewiesen, zu denen sie sich den Referierenden zufolge positionieren könne und müsse. Sie könne aber auch selbst aktiv Orte besetzen. Wie ein eigenes „Feld der politischen Bildung” in diesem Zusammenhang entsteht, wurde von den Referierenden an drei umstrittenen Themen gezeigt: Neutralität, Diskriminierungskritik und politische Grundbildung. Das „Feld der politischen Bildung” solle dabei helfen, die damit verbundenen Konflikte und Spannungen besser zu verstehen und einzuordnen.

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Politische Bildung für alle? Oder: Warum wir in der politischen Bildung nicht so sehr auf Zielgruppen fixiert sein sollten

Prof.in Dr.in Anja Besand (TU Dresden) thematisierte kritisch den Fokus auf vermeintlich schwer erreichbare Zielgruppen und schlug vor, inklusive politische Bildung anders zu denken. Hierfür erläuterte sie das Potenzial raumbezogener Konzepte in der politischen Bildung und veranschaulichte das an einem ganz konkreten Beispiel: Politische Bildung in der Hundeschule. Hier kommen soziodemografisch sehr unterschiedliche Menschen regelmäßig über ein drittes gemeinsames Anliegen und Interesse zusammen, haben viel Zeit für Kommunikation und können sich unkompliziert einander zu- und abwenden. Dies seien gute Gelegenheiten für informelle politische Bildung.  Der Workshop zum Thema beschäftigte sich eingehend mit den Chancen und Herausforderungen der Zielgruppenorientierung in der politischen Bildung. Dabei bestand Einigkeit, dass eine Sichtweise, die die Zielgruppen als defizitär betrachtet, abzulehnen sei.

Zielgruppedefinitionen anhand von soziodemografischen Merkmalen begünstige einen solchen Blick. Eine Form der Zielgruppenorientierung, die Anja Besand weniger kritisch sieht, ist die, konkrete und spezifische Zielgruppen anzusprechen. So hätten sie und ihre Kolleg*innen zum Beispiel ein Angebot für Finanzberater*innen erarbeitet, bei dem sie Termine bei Finanzberater*innen in ihren Banken vereinbarten und aus dem Beratungsgespräch ein politisches Gespräch machten. Dieser Ansatz wurde von den Teilnehmenden des Workshops sehr kritisch gesehen und es wurden ethische Fragen aufgeworfen.

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Partizipation und politische Teilhabe mit allen als Auftrag politischer Bildung

Thomas Gill (Leiter der Berliner Landeszentrale für politische Bildung) sprach in seinem Vortrag „Partizipation und politische Teilhabe mit allen als Auftrag politischer Bildung“ über die Schnittstelle von Beteiligung und politischer Bildung. Im letzten Jahrzehnt hätten die Verfahren zur Bürger*innenbeteiligung erheblich zugenommen. Dies könne als (neue) Form der partizipativen Demokratie verstanden werden. Anspruch der Verfahren sei es, die politische Teilhabe der Bürger*innen / Einwohnenden zu erhöhen. Die soziale Ungleichheit der politischen Teilhabe sei jedoch insbesondere bei diskursiven Formen der partizipativen Demokratie deutlich stärker ausgeprägt als bei den Beteiligungsformen der repräsentativen Demokratie, wie Wahlen, Parteimitgliedschaft. Dort, wo die Partizipationslücke wahrgenommen werde, führe dies zum Ruf nach Angeboten der politischen Bildung. Gill stellte in diesem Zusammenhang die (Förder-)Arbeit der Berliner Landeszentrale im Bereich aufsuchende Konzepte und Arbeit mit marginalisierten Communitys vor, die auf die Förderung der politischen Teilhabe aller zielt.

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Antisemitismus und Empowerment. Perspektiven, Ansätze, Projektideen

Marina Chernivsky (Leiterin des Kompetenzzentrums für Prävention und Empowerment) referierte über „Antisemitismus und Empowerment“. Ihr Vortrag stand unter dem unmittelbaren Eindruck des Terrorangriffs der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023. Sie schilderte eindrücklich, wie Jüd*innen in der gegenwärtigen deutschen Gesellschaft mit Antisemitismus konfrontiert sind. Dabei machte sie ein politisches Verständnis von Empowerment stark: eines, das nicht nur auf die Ausbildung individueller Resilienz abzielt, sondern stärker die gesellschaftlichen Strukturen in den Blick nimmt, die Antisemitismus als ein Unterdrückungs- und Herrschaftsverhältnis bedingen und (re-)produzieren.

Fazit

Die Fachtagung „Zusammen:denken – Politische Bildung im Plural“ hat aus Sicht von Veranstaltern und Teilnehmenden gezeigt, dass politische Bildung die Vielfalt ihrer Praxisfelder, Settings, und Adressat*innen konzeptionell bedenkt. Die verschiedenen Akteure der politischen Bildung kamen miteinander ins Gespräch, konnten voneinander lernen und zusammen über wichtige Fragen und Herausforderungen der politischen Bildung nachdenken. Die vorgestellten Modelle und Konzepte bildetet einen Gegenpol zu den im Feld häufig stattfindenden Abgrenzungsdebatten. Die Fachtagung konnte damit einen Raum für Transfer und Dialog schaffen, der auch in Zukunft weiterhin und regelmäßig benötigt wird.

Zur weiteren Tagungsdokumentation


 

Leztes Foto (Podiumsdiskussion): Transfer für Bildung e.V.

alle anderen Fotos: Transfer für Bildung e.V. / Jörg Farys



Veröffentlicht am 15.12.2023



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